Yoga vs. Achtsamkeitsyoga: eine 5000 Jahre alte Weisheit erfährt eine Renaissance

Yoga bzw. Achtsamkeitsyoga hat positive Auswirkungen auf Körper und Psyche. Mariele Sibum-Berentelg erklärt die Hintergründe des Hatha Yoga.

Hatha Yoga und Achtsamkeitsyoga

Tief in jedem einzelnen Menschen liegt ein Reservoir der Ruhe und Gelassenheit. Oftmals ist es in diesen schnelllebigen Zeiten schwierig, einen Zugang zu diesem Schatz zu finden. Hatha Yoga/ Achtsamkeitsyoga wird hier als eine wirksame Alternative aufgezeigt, in der die beiden Traditionen Yoga und Achtsamkeit miteinander vereint werden.  Dieses 5000 Jahre alte Wissen von kognitivbetonter Meditation mit körperfixiertem Yoga, was auch einfach Yoga und Meditation in Aktion genannt werden könnte, wurde wissenschaftlich untersucht.  Bemerkenswert ist dabei: Yoga in einer Gruppe bei Schmerzpatienten schneidet genauso gut ab wie die kostspielige Einzel-Physiotherapie in unseren heutigen Therapien. So ist es sicherlich sehr interessant, die Hintergründe zu beleuchten.

Yoga ist Vereinigung

Yoga geht aus der Wortwurzel „Yuj“ - „Geschirr, Gespann“ hervor. Ein Geschirr, mit dem drei Ochsen zusammen einen Pflug oder Wagen gespannt werden. Im Yoga auf geistiger Ebene gemeint ist damit die „Vereinigung“ der individuellen Seele „Atman“ mit Gott „der Weltenseele Brahman“.  So gibt es bis zum heutigen Tag im Yoga zahlreiche Lehren mit unterschiedlichen Lebenseinstellungen - von asketisch über integral bis weltoffen, mit dem Ziel der Transformation des Geistes mit Hilfe des Körpers, des Atems und des Bewusstseins.  
Yoga ist „Citta (Geist) vritti (Wellen) nirodha (beherrschen),“ heißt es in der Yogasutra des Patanjali. Nur so können wir unser wahres Selbst erkennen, was höchste Freiheit (Samadhi) bedeutet.
Die unterschiedlichen Polaritäten Sonne (Ha) und Mond (Tha) erzeugen in uns Leiden (Dukkha), bringen uns immer wieder vom Weg zur „Befreiung“ oder „Erleuchtung“ ab. So ist es sinnvoll, uns genau mit diesen Qualitäten des HATHA YOGA in Einklang zu bringen.

Mit Hatha Yoga die Herausfoderungen des Lebens meistern lernen

Im Laufe der Jahrtausende entwickelte Yoga historisch in religiöse oder spirituelle Richtungen. Hier liegt der Fokus auf Patanjali ca. 200 v Chr. / ca. 425 n. Chr. mit dem Yogasutra aus 195 Sätzen, die ein wesentlicher Bestand des Hatha Yoga und bis heute aktuell sind. Der 8-gliedrige Yogapfad nach Patanjali wird als Raja-Yoga (der königliche Yogaweg) bezeichnet und beinhaltet den Umgang 
1.    mit der Umwelt (Yamas),
2.    mit sich selbst (Niyamas), 
3.    mit dem Körper (Asanas), 
4.    mit dem Atem (Pranayama), 
5.    mit den Sinnen (Pratyahara), und 
6.    Fokussierung und Umgang des Geistes (Dharana), 
7.    mit der Meditation (Dhyana) und 
8.    der Höchsten/ dem EinsSein mit dem Objekt der Kontemplation/ der inneren Freiheit (Samadhi). 

Dieses ist kein gradliniger Weg, sondern kann sich auch in unterschiedlicher Reihenfolge entwickeln, und kann nur mit absoluter Disziplin erreicht werden.

Mehr zum Thema: Anti-Stress - der Weg der Achtsamkeit

Gerade in der Pandemie sind Physiotherapeut:innen, Ergotherapeut:innen und Logopäd:innen einer hohen physischen und psychischen Belastung ausgesetzt. Ein Weg, dem Stress entgegenzuwirken, ist Achtsamkeit.  Mariele Sibum-Berentelg, ausgebildete Physiotherapeutin, Osteopathin und Heilpraktikerin, gibt hilfreiche Tipps.

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Verschiedene Yogastile haben die gleichen Ziele

Unterschiedliche Lehrer (Gurus) entwickelten genau definierte Techniken, um die Balance in Körper, Bewusstsein und Seele zu bringen. So entwickelte sich aus dem einen Meditationssitz am Feuer bis heute mehrere 100te Körperhaltungen (Asanas), die teilweise über die Nutzung von Hilfsmitteln bis zur Akrobatik reichen. Die Ziele im Hatha Yoga sind jedoch immer die gleichen:

•    „Zur-Ruhe-Kommen“ der seelisch- geistigen Vorgänge, Gelassenheit
•    Überwindung von Hindernissen wie Krankheit, Depression und Gier
•    Entwicklung von Qualitäten wie Liebe, Mitgefühl und Gleichmut
•    geistige Festigkeit, Transparenz, Klarheit und Weisheit
•    Sammlung und Versenkung, Selbsterkenntnis und Freiheit1  

Das Hatha Yoga erfährt durch den Achtsamkeitshype eine Renaissance

1979 verdeutlichte Jon Kabat- Zinn- Begründer von MBSR Mindfulness Based Stress Reduction- die Zusammengehörigkeit von Asana, Atem und Fokussierung.  Dieses wurde seitdem erfolgreich bei chronischen Schmerzen und psychischen Erkrankungen eingesetzt. Er praktiziert ein sanftes Hatha- Yoga. Achtsamkeit ist von Augenblick zu Augenblick gegenwärtiges, nicht urteilendes Gewahrsein, kultiviert dadurch, dass wir aufmerksam sind, sagt er. Mit den Prinzipien von Achtsamkeit stimmen wir uns auf das Hatha Yoga und sogar auf unser Leben ein:

1.    Nicht beurteilen
2.    Geduld haben
3.    Anfängergeist bewahren
4.    Vertrauen schenken
5.    Nicht anhaften
6.    Akzeptanz zeigen
7.    Loslassen,
ergänzt durch
8.    Mitgefühl mit sich selbst und anderen

Die Körperstellung und Atem werden in Bewegung und Ruhe bewusst wahrgenommen und in Bewegung miteinander verbunden, egal ob Stehen, Sitzen, Gehen oder Bewegen. Nach dieser Vorgeschichte ist es sehr logisch, dass Achtsamkeitsyoga mit Hatha Yoga gleichzusetzen ist, weil beide als ganzheitlich säkulares Konzept zur physischen und psychischen Gesundheit dienen.

Hatha Yoga und Achtsamkeit sind wieder vereint

Diese Verbindung der beiden alten Traditionen wie die des Yogas stammend aus den Veden über Patanjali zum klassischen Hatha Yoga und die der Achtsamkeit aus der frühbuddhistischen Theravada Tradition entspringend, bilden eine sinnvolle Einheit.

"Es geht um Verbindung miteinander, um EinsSein, egal ob man es "Atman" oder "Purushha" nennt, oder ob wir bei uns selbst ankommen, um letztlich wahrzunehmen, dass wir ein Teil des großen Ganzen sind, dass wir in Verbindung mit allem stehen"

Jon Kabat Zinn

Kann Hatha Yoga bzw. Achtsamkeitsyoga uns gesundheitlich unterstützen?

Hatha Yoga / Achtsamkeitsyoga hat sehr breite Resonanz, weil viele Menschen mit unterschiedlichen Zielen erreicht werden könnten- von Muskelaufbau, Gewichtsreduktion bis zur Entspannung. Dabei wurden wissenschaftlich viele positive Auswirkungen auf den Körper und die Psyche festgestellt, zum Beispiel:

-    beste Studienlage bei chronischem Rückenschmerz, sogar in ärztlichen Leitlinien als Primärtherapie empfohlen
-    besser Umgang mit chronischen Schmerzen wie bei Arthrosen, rheumatoiden Arthritis, als auch bei Colitis Ulzerosa
-    positive Auswirkungen auf den Blutdruck und Stress
-    gut gegen depressive Verstimmungen/ Depressionen
-    positiven Einfluss auf den Lifestyle auch in Bezug auf Ernährung
-    mehr konzentrative- meditationsorientierte Yogapraxis hat positiven Einfluss auf die Psyche

Kann Hatha Yoga bzw. Achtsamkeitsyoga gefährlich sein?

Dr. Günter Niessen, Berliner Orthopäde, richtet sich an Yogalehrer:innen, interessierte Therapeut:innen aus verwandten Bereichen und erfahrene Praktizierende und weist auch auf Gefahren von Yoga hin. Gemäß der Yoga Sutra nach Patanjali geht es vor allem darum, „den Geist zur Ruhe zu bringen“. Die modernen Menschen identifizieren sich oft mit ihren Gedanken, verlieren sich im „multi- tasking“ oder in die Gedanken ihres ständig aktiven Geistes. Gemäß der Lehre des Hatha Yoga, sei dieses aber notwendig, um zu „Klarheit“ oder „Erleuchtung“ zu gelangen. Nur dann kann Konzentration und bewusstes Fokussieren entstehen.  Da sich der Yogastil mehr in eine körperliche Richtung entwickelt hat, treten mehr körperliche Verletzungen durch nicht Wahrnehmung körperlicher Grenzen und falschem Ehrgeiz auf.  Das Risiko von Verletzung steigt bei mangelndem Basiswissen, falls nur nach Buch oder mit digitaler Yogapraxis geübt wird. Natürlich ist es auch der Eigenwahrnehmung und -steuerung der Person selbst abhängig. Ebenso hat auch der Unterrichtsstil des Yogalehrers bei evtl. nicht adäquater Anleitung Einfluss darauf. 

Deshalb ist der Appell: Die Körperhaltungen sollten immer mit Bewusstsein und Atmung begleitet werden.

Praktizieren Sie selbst Hatha Yoga, bevor Sie in die Hatha Yoga Lehrer:in werden 

Für achtsames Yoga mit allen Sinnen in Kombination mit fundamentiertem Wissen um Hatha Yoga ist es für die Eigenwahrnehmung wichtig, eine qualifizierte Hatha Yoga Schule zu besuchen.   Achtsamkeitsbasierten Tools und Fachwissen werden in den Yogaunterricht eingebracht, was die Basis für eine verantwortungsbewusste Lehrtätigkeit ist.  So ist Hatha Yoga im ersten Schritt eine hervorragende Selbsterfahrung und im zweiten Schritt eine sinnvolle Prävention.

Mit gesundem Menschenverstand, Kreativität und Freude an Achtsamkeitsyoga kann dieses Wissen ebenso in den Therapiealltag für sich selbst und die Patienten eingebracht werden. Im Wesentlichen geht es dabei um den Erhalt der Selbstbestimmung, den Umgang mit Übungen im Rahmen des individuellen Bewegungsausmaßes und das achtsame Erspüren der Kraft und Grenzen. Es kann den therapeutischen Alltag und die körperliche und geistige Rehabilitation variationsreich erweitern, Ressourcen bilden und dadurch eine gesunde Bereicherung sein.
 

Mariele Sibum-Berentelgs praktische Übungsempfehlung: Die Einladung zu einer achtsamen Körperbewegung zur Nackenentspannung


Hierzu nehmen Sie bitte auf einem Stuhl Platz, auf dem Sie stabil, aufrecht als auch bequem sitzen können und nehmen Sie schrittweise Ihren Körper als ganzes wahr. Spüren Sie, wie der Atem in Ihnen gleichmäßig, lang und ruhig wird, ohne dass Sie ihn verändern oder beeinflussen.  Nehmen Sie sich einfach die Zeit, um in diesem Augenblick bei sich selbst anzukommen. Nehmen Sie ebenso nun Ihre gesamte Nackenregion wahr, so wie Sie jetzt gerade empfinden.

  • Mit einem der nächsten Atemzüge heben Sie den rechten Arm, beugen den Ellenbogen hinter den Kopf, soweit es Ihnen möglich ist. Die rechte Hand darf gerne locker auf der linken Nackenseite abgelegt werden. Bleiben Sie in Ihrem schmerzfreien Bewegungsausmaß.
  • Lassen Sie den Atem fließen, während die mit der nächsten Ausatmung den Kopf sanft nach links rollen. Die Augen flogen der Bewegung, die Sie mit der Atmung durchführen. 
  • Nehmen Sie die Grenze Ihrer Bewegung wahr, ohne Sie zu überschreiten.  Bleiben Sie weitere drei Atemzüge in dieser Stellung: einatmend den Nacken nach oben strecken, ausatmend weich über die linke Schulter schauen. 
  • Der Atem fließt lang, gleichmäßig und weich, während Sie mit der vierten Einatmung mit dem Kopf wieder zu Mitte kommen.  Den rechten Arm dabei nach oben strecken, und letztlich wieder neben dem Körper hängen lassen. 

Lassen Sie den Atem fließen, so wie er kommt und geht. Nehmen Sie den Körper und besonders die Nackenregion wahr, wie diese sich jetzt anfühlen und markieren Sie diese Region innerlich mit einem Etikett, oder es weiter zu bewerten.

Wenn Sie sich bereit fühlen, führen Sie den gleichen Vorgang mit der anderen Körperseite durch. 

Führen Sie diese Übung seitengleich insgesamt drei mal durch. Konzentrieren Sie sich auf Ihrem Körper, insbesondere auf Ihre Nackenregion. Nehmen Sie sich nach jeder Bewegungsdurchführung einige Atemzüge Zeit für das Nachspüren, bevor Sie in die nächste Bewegungsrunde gehen. Atem und Bewegung bleiben dabei Wegbegleiter. 

Wenn Sie nun die Übung beendet haben, nehmen Sie sich einige Atemzüge Zeit, um Ihre Nackenregion und letztlich den gesamten Körper konzentriert wahrzunehmen. Beantworten Sie sich innerlich folgen Fragen: 

1.    Welche Körperempfindung können Sie nun auf Ihr Etikett schreiben, und dabei sachlich bleiben?
2.    Wie fließt Ihr Atem JETZT? (Nicht beeinflussen, so sein lassen. Nur beobachten)
3.    Welchen Gedanken haben Sie? (Nicht bewerten, nur wahrnehmen)


Ulrich Ott, Yoga für Skeptiker 2013
 


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