Gender-Therapie: "Das Thema hat eine hohe Relevanz für uns Therapeut:innen“
Wieso ist die Gender-Medizin Ihrer Ansicht nach auch für Heilmittelerbringer:innen ein wichtiges Thema?
Weil wir insgesamt unterschätzen, wie Geschlecht unsere Welt strukturiert. Und weil wir als Heilmittelerbringer:innen im direkten Patient:innenkontakt schließlich nicht nur die körperliche, sondern auch die psychische Ebene betreuen, die bekanntlich besonders stark gegendert ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass das Thema eine hohe Relevanz für uns Therapeut:innen hat, ohne konkret sagen zu können, welche genau – denn die Studienlage zu dem Thema ist leider sehr dünn.
Können Sie trotzdem mal beschreiben, an welcher Stelle das Geschlecht in der Therapie eine Rolle spielt – abgesehen von biologischen und anatomischen Unterschieden, die zu berücksichtigen sind?
Wenn ich Männer auffordere – um mal eine Stereotype zu beschreiben –, eine bestimmte Übung zu machen, muss ich sie meistens eher bremsen, damit sie nicht über ihre Leistungsgrenze gehen und dann versuche ich ihnen eher etwas Körperbewusstsein beizubringen. Bei Patientinnen dagegen ist es häufiger der Fall, dass sie sehr stark auf ihren Körper hören und dadurch sehr verunsichert sind und sich generell wieder mehr trauen sollten.
Sie haben eben selbst von Stereotypen gesprochen. Geht der Trend nicht dahin, dass man auf binäre Einordnungen eher verzichtet und versucht, generell etwas sensibler auf Unterschiede einzugehen?
Selbstverständlich, zumal ja auch nicht nur Geschlecht prägt, sondern auch der soziökonomische Hintergrund, die Bildung, die Herkunft und vieles mehr. Trotzdem ist es sinnvoll, die Binarität als gesellschaftlichen Fakt anzunehmen und zu begreifen. Erst im nächsten Schritt kann dann eine Überwindung der Binarität erfolgen. Ich glaube nicht, dass wir ohne diesen Zwischenschritt auskommen.
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Die Heilmittelerbringung ist aber eher frauendominiert. Ist die Therapie nicht vielleicht dann sogar eher weiblich?
Es ist nachvollziehbar, dass man auf diesen Gedanken kommen könnte, allerdings reden wir hier von paramedizinischen Berufsgruppen, bei deren medizinischer Ausbildung Männer eine dominierende Rolle spielen. Das heißt, das von uns Therapeut:innen angewandte medizinische Wissen ist von Männern geprägt. Die Strukturen dieses Androzentrismus sind von Margrit Eichler bereits 1990 umfassend beschrieben worden.
Nach mehreren Jahren in der Forschung haben Sie sich nun entschieden, wieder voll als Physiotherapeutin zu arbeiten. Was haben Sie aus Ihrer wissenschaftlichen Arbeit mitgenommen?
Vor allem meinen Blick für evidenzbasierte Medizin und Techniken. So muss ich immer wieder Menschen erklären, dass die häufig gewünschte Massage zwar eine angenehme Technik ist, aber wesentlich weniger Wirkung erzielt wie eine bewusste Bewegungsschulung im Eigenübungsprogramm. Hinsichtlich meiner Gender-Brille fällt mir stets auf, wie Menschen sich limitieren, wenn sie sich den vorherrschenden Geschlechterstereotypen unterwerfen, Frauen ihre eigene Kraft unterschätzen oder komplett negieren und Männer sich dagegen überschätzen und meinen, besonders stark oder leistungsfähig sein zu müssen.
Über Sarah Hiltner
Sarah Hiltner arbeitet als Physiotherapeutin in der Lüneburger Heide. Zuvor hat sie Soziologie studiert und sich danach als Wissenschaftlerin auf geschlechtersensible Medizin spezialisiert.