Achtsames Selbstmitgefühl - die Antidote in schwierigen Zeiten

Achtsamkeitslehrerin und Heilpraktikerin Mariele Sibum-Berentelg gibt Einblicke in wirksame Hilfen durch achtsames Selbstmitgefühl (MSC) für Gesundheitsberufe.

Achtsames Selbstmitgefühl als Antidote in schwierigen Zeiten

Am 13. März 2020 änderte sich vom einen auf den anderen Tag auch in Deutschland der gesamte Lebensalltag. Das Corona-Virus breitete sich aus. Hygiene- und Schutzmaßnahmen, sowie Quarantäne und bis zur Selbstisolierung gehörten zur Tagesordnung. Chronische Krankheiten und Schmerzen hatten allerdings keine Ausgangsperre. Das brachte u. a. Ärztinnen und Ärzte, Therapeut:innen und pflegende Berufe mit ihren Patient:innen in große Konflikte.

In Gesundheitsberufen musste kurzfristig neue Prioritäten und veränderte Arbeitsabläufe entstehen. Arbeits- und Erholungszeiten wurden reduziert, emotionale Anspannung durch Patienten mit besonderen Behandlungsbedürfnissen waren im Ausnahmezustand. Digitalisierung und neue Kommunikationsmöglichkeiten wurden geschaffen und eingeführt. Von Therapeut:innen wurde professionelle Nähe erwartet und nur professionelle Distanz zugelassen. Eingeschränkte soziale Bindungen bis zur Vereinsamung, Angst vor einer Infektion und Unsicherheit breiteten sich bis heute aus. 

In dieser schwierigen Situation neigen Therapeut:innen, Ärztinnen und Ärzteund pflegende Berufe dazu, oft angespornt von inneren Antreibern wie „sei stark“, „streng dich an“ oder „sei perfekt“, ihre eigene Gesundheit und Selbstfürsorge hintenanzustellen, um Patient:innen zu helfen. Auch mangelndes Selbstmitgefühl sowie fehlende Resilienz können der Nährboden für Burnout und Empathie-Müdigkeit sein kann. 

„Mitgefühl für andere“, so sagt der 14. Dalai Lama, „bedarf im ersten Schritt Mitgefühl für sich selbst“. Dieses Fundament ist die Fähigkeit, sich mit seinen eigenen Gefühlen zu verbinden, und sich erst um sein eigenes Wohlergehen zu kümmern und die Voraussetzung für weiteres Mitgefühl für andere möglich zu machen.“

So bedeutet achtsames Selbstmitgefühl, sich selbst in schwierigen Zeiten verständnisvoll und unterstützend zu begegnen, anstatt mit zusammengebissenen Zähnen den eigenen Schmerz auszublenden. Selbstmitgefühl ist nicht zu verwechseln mit Selbstmitleid, aber auch nicht mit einem eher egoistischem „I go first“. Selbstmitleid zu empfinden bedeutet, in seine eigenen Probleme abzutauchen und zu vergessen, dass andere auch ähnliche Probleme haben. Achtsames Selbstmitgefühl dagegen ermöglicht es, etwas Abstand zu gewinnen und eine ausgeglichene Perspektive aus der Metaebene zu entwickeln, aus der heraus wir – ohne Drama – mitfühlend mit uns selbst und anderen umgehen können.

Mitgefühl ist mehr als Empathie

Empathie entspricht unserer Fähigkeit zur emotionalen Resonanz. Strukturen im Gehirn lassen uns Bewegung und Emotionen, die wir beim anderen wahrnehmen, empfinden, als erlebten wir sie selbst. Hierbei wird die Welt des anderen genauso empfunden, als wenn es die eigene wäre, „Mein Gegenüber freut sich, so freue ich mich auch.“ (Carl Rogers).  Es werden ähnliche Netzwerke in meinem Gehirn aktiviert wie bei meinem Gegenüber.

Mitgefühl hat eine andere Qualität. Es ist verbunden mit einem emotionalen Erlebnis- und Erfahrungsnetzwerk, dem Fürsorge-System. Warme fürsorgliche und prosoziale Motivation ist damit verbunden, einerseits Wohlwollen zu empfinden und gleichzeitig, dem anderen helfen zu wollen, um sein Leid zu mildern. 

Wo die Empathie sagt: „Ich spüre dich“, sagt das Mitgefühl: „Ich halte dich“ (Neff/Germer). Empathie ist der erste Schritt. Um nicht durch zu viel Mitschwingen zu ermüden, ist es hilfreich, wenn im zweite Schritt Mitgefühl erfahren wird. Und zwar, wie beschrieben, dem anderen UND sich selbst gegenüber. Die Forschung (z.B. das ReSource – Projekt 2013 bis 2016 mit 300 Teilnehmern von Tania Singer) zeigt, dass dies eine Möglichkeit ist, zeitgleich mit dem Gegenüber in Verbindung zu bleiben, ohne sich selbst zu verlieren. Das Mitgefühl hilft nachweislich, Resilienz gerade auch in Gesundheitsberufen zu erhöhen.

Achtsames Selbstmitgefühl als Primärprävention 

„Mit Selbstmitgefühl schenken wir uns selbst die gleiche Güte und Fürsorge, die wir auch einem guten Freund oder einer guten Freundin schenken würden.“

Kristin Neff

Oft begegnen wir einem Freund oder einer Freundin mit einer einfühlenden Haltung, die wir uns selbst nicht zugestehen würden. Dieser Perspektivwechsel kann helfen, auf diesem Umweg Mitgefühl für uns selbst zu stärken.
Um das Verständnis von Mitgefühl und Selbstmitgefühl zu vertiefen, ist es wesentlich, sich die unterschiedlichen Qualitäten des Mitgefühls zu vergegenwärtigen:                                        
Das Yin-Mitgefühl (Miteinander Sein) mit tröstender, lindernder und bestätigender Haltung wie eine Mutter, die ihr weinendes Kind zärtlich tröstet, und das Yang-Mitgefühl (aktiv sein in der Welt) – das in beschützender, versorgender, motivierender Art und Weise wirkt wie eine Bärenmutter, die ihre Jungen wild vor Schaden schützt. 

Der gemeinsame Nenner für beides ist Fürsorge und beides, das tröstende, wie das aktiv schützende Mitgefühl ist in diesen schwierigen Zeiten notwendig. 
Das achtsame Selbstmitgefühl ist für viele Menschen ein radikal anderer Ansatz als sie es gewohnt sind – es bedeutet, bedingungsloses Mitgefühl für sich selbst zu haben, unabhängig von den Umständen oder Erfolgen. Dieses steht im Widerspruch zu einer Kultur, die uns oft vor allem für Leistungen, Kapital und Auszeichnungen belohnt.

Mithilfe der Selbstmitgefühlspause können Sie sich selbst einladen, Ihr bester Freund oder Ihre beste Freundin zu sein, und sich selbst so liebevoll, wohlwollend, tröstend und motivierend zu unterstützen. Sie lässt die drei Kernkomponenten Achtsamkeit, gemeinsames Mensch-Sein und Selbstfreundlichkeit gegenüber dem Leiden erfahrbar werden. 

"Mindfulness and Self-Compassion are BFF – Best Friends Forever – 
Achtsamkeit und Selbstmitgefühl sind 'beste Freunde für immer'"

Christopher Germer

Schreiben Sie sich selbst einige Zeilen, wie Sie sie einer guten Freundin oder einem guten Freund schreiben würden: 

1.    Gönnen Sie einen Moment der Achtsamkeit beim Schreiben:
Nehmen Sie diese aktuellen, vielleicht auch leidvollen Gedanken, Gefühle und Körperempfinden bewusst wahr, egal ob es Ängstlichkeit, Scham, Trauer oder Stress ist. Schmäleren Sie es nicht, und machen Sie es auch nicht größer als es ist. Versuchen Sie, dieser Erfahrung möglichst vorurteilsfrei, akzeptierend und mitfühlend zu begegnen und sich selbst zu sagen: „Das war richtig Stress!“- „Das tut weh!“

2.    Machen Sie sich bewusst, dass Sie in dieser Erfahrung mit vielen anderen Menschen verbunden sind, und dass diese Eigenschaften zutiefst menschlich sind.
Machen Sie sich klar, dass jeder schon einmal überreagiert hat, und dass es naheliegend ist, dass Menschen in dieser leidvollen Situation so reagieren, wie Sie es gemacht haben. „Das ist einfach menschlich!“ oder „Leid gehört zum Leben!“ oder „Ich bin mit dieser Erfahrung gerade nicht allein!“

3.    Und seien Sie nun in Schritt 3, freundlich zu sich selbst:  
Nutzen Sie freundliche und verständnisvolle Worte für sich. Spenden Sie sich selbst einfühlsame, wohlwollende und fürsorgliche Zeilen für diese schwierige Situation wie: „Möge ich mich so annehmen, wie ich bin.“ oder „Möge ich mir selbst vergeben, was geschehen ist.“

Wenn es Ihnen schwerfällt, passende Worte zu finden, stellen Sie sich vor, was Sie einem lieben Freund oder einer Freundin schreiben. würden. Spüren Sie Schritt 2 nach, wie es sich für Sie selbst anhört.

Weitere Übungen 

Auch regelmäßiges tägliches Üben von kleinen Atem-, Körper oder Gehmeditationen können Ihnen dabei behilflich sein, Ihr Bewusstsein zu schulen, präsent zu sein und eine akzeptierende Haltung ohne Bewertung einzunehmen, ohne sich von den Ereignissen überwältigen zu lassen. 

Achtsames Selbstmitgefühl im MSC Konzept erfahren 

„Wenn wir leiden, kümmern wir uns um uns selbst, wie wir uns um jemanden kümmern würden, den wir wirklich lieben. Achtsames Selbstmitgefühl beinhaltet: Selbstfreundlichkeit, gemeinsames Menschsein und Achtsamkeit.“

Kristin Neff

Achtsamkeit gepaart mit Selbstmitgefühl hilft dabei, den passenden Weg zu wählen, um dem Schmerz mit liebevoller und verbundener Präsenz zu begegnen. Hier kann Transformation zum Heilwerden durch aktive achtsame Selbstfürsorge weg von Scham, Selbstverurteilung, mangelndem Selbstverständnis, Stress, Angst, Ausgebrannt sein und Empathie-Müdigkeit hin zu Balance mit emotionalem Wohlbefinden stattfinden.

Diese Haltungen und Erfahrungen von Selbstfreundlichkeit (Yin- und Yang-Selbstmitgefühl), das Gefühl des gemeinsamen Menschseins und Achtsamkeit werden im MSC Konzept kultiviert.  

Das 8-wöchige Mindful Self-Compassion Programm (MSC) entwickelt von Dr. Christopher Germer, klinischer Psychologe und Lehrbeauftragter der Harvard Medical School und Dr. Kristin Neff, Professorin für Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung an der Universität Texas in Austin, Pionierin auf diesem Gebiet, ist ein erprobtes und gut evaluiertes Praxisprogramm zum Kultivieren von Selbstmitgefühl und Mitgefühl. Neff forscht seit mehr als 10 Jahren zum Selbstmitgefühl. 

Das Programm beinhaltet üblicherweise in 8x 2,5 Stunden, sowie ein Halbtages-Retreat im Schweigen von 4 Stunden. Alternativ werden auch Online-Programme wie SC-MSC (Short Course-MSC) zu 6 Wochen á 1,5 Stunden angeboten; SCHC (Self Compassion for Health care Professionals) richtet sich ganz speziell an Therapeuten, Ärzte, pflegende und soziale Berufe.

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