Schule und/oder Studium?

Akademisierung für alle Heilmittelerbringer:innen? Die Mehrheit der Verbände plädiert in der Tat für eine Vollakademisierung. Doch auch eine berufsfachschulische Ausbildung hat ihre Fürsprecher. Ein Pro und Kontra.

Gruppe von Physiotherapie Azubis mit Skelett

Pro: Andrea Rädlein, Vorsitzende des Deutschen Verbands für Physiotherapie ZVK (Physio Deutschland)

„Nur durch ein attraktives Berufsbild auf hohem Ausbildungsniveau lässt sich eine flächendeckende therapeutische Versorgung sicherstellen.“

Andrea Rädlein, ZVK

Wir setzen uns für eine hochschulische Ausbildung mit hohem Praxisanteil ein, wie sie im internationalen Raum seit Langem üblich ist. Diese Forderung erheben wir für die Therapieberufe Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie gemeinsam mit sieben weiteren Beteiligten im Bündnis Therapieberufe an die Hochschulen. Darin haben sich die acht mitgliederstärksten Berufs- und Ausbildungsverbände der drei Berufsfelder zusammengeschlossen. Damit kommen wir dem Wunsch der Politik nach, mit einer Stimme zu sprechen.

Die letzten Jahre haben gezeigt, dass ein Nebeneinander von fachschulischer und hochschulischer Ausbildung teuer ist und die Berufsgruppe der Physiotherapeut:innen spaltet – das lehnen wir ab! Tatsache ist auch: Immer mehr junge Menschen möchten studieren. Gleichzeitig haben sie den Wunsch, mit Menschen zu arbeiten und ihnen aktiv zu helfen. Wir sind davon überzeugt, dass eine primärqualifizierende hochschulische Ausbildung mit hohem Praxisanteil die Physiotherapie attraktiver macht und der therapeutischen Versorgung – und damit den Patient:innen – zugutekommt. Nur durch ein attraktives Berufsbild auf hohem Ausbildungsniveau lässt sich eine flächendeckende therapeutische Versorgung sicherstellen. Wir schaffen mit der hochschulischen Ausrichtung auch die Grundlage für eine kontinuierliche, wissenschaftliche Weiterentwicklung der Therapieberufe.

Wir setzen uns für die hochschulische Ausbildung ohne wirtschaftliche Interessen und ohne Ausgrenzung ein – im Gegenteil: Mit unseren Vorschlägen zur Umsetzung der akademischen Ausbildung erhalten wir über die fachschulische Ausbildung des Massagetherapeuten den Zugang zur Physiotherapie mit mittlerem Bildungsabschluss. Wir schaffen gleichzeitig ein attraktives Berufsbild für Abiturienten, die ein vielfältiges und zukunftsfähiges Tätigkeitsfeld erwartet.

Das alles soll nicht von heute auf morgen geschehen, sondern innerhalb einer Transformationszeit von bis zu 15 Jahren. Alle jetzt im Beruf Tätigen sind nur davon betroffen, wenn sie sich für eine akademische Zusatzqualifikation interessieren. Alle Berufsfachschulen und Lehrenden haben die Möglichkeit, Teil der Transformation zu sein. Wir schließen niemanden aus – im Gegenteil: Gemeinsam mit den Berufsverbänden der Lehrkräfte haben wir Übergangsszenarien und damit gute Wege für eine sinnvolle Umsetzung gefunden.

Was es jetzt braucht, ist der Mut der Politik, einen zukunftsweisenden Gesetzentwurf für die Physiotherapie auf den Weg zu bringen. Dafür führen wir Gespräche, bringen uns aktiv im Bundesgesundheitsministerium und in den zuständigen Länderministerien ein. Wir müssen diese historische Chance jetzt nutzen – für mehr Autonomie innerhalb des Berufes und für die Patient:innen!


Die Physiotherapeutin Andrea Rädlein ist Vorsitzende des Deutschen Verbands für Physiotherapie ZVK (Physio Deutschland) und stellvertretende Vorsitzende des Spitzenverbands der Heilmittelverbände SHV. Zudem ist Rädlein Geschäftsführerin des Regionalen Therapie-Zentrums RTZ in Wuppertal

Contra: Wolfgang Oster, stellvertretender Bundesvorsitzender des VDB

„Eine Vollakademisierung würde den Fachkräftemangel verstärken, weil dann alle jungen Menschen ohne Hochschulzugangsberechtigung wegbrechen würden.“

Wolfgang Oster, VDB

Grundsätzlich sind wir nicht gegen die Akademisierung. Sie ist notwendig! Hierbei orientieren wir uns an der Empfehlung des Wissenschaftsrates. Dieser hat der Politik gesagt, dass es in den Gesundheitsfachberufen im Allgemeinen und der Physiotherapie im Besonderen einen Bedarf an akademisch ausgebildetem Personal von 10 bis 20 Prozent besteht – beispielsweise in der Forschung, der Lehre oder auch für bestimmte Leitungsfunktionen. Die restlichen 80 bis 90 Prozent der Berufsangehörigen arbeiten jedoch beispielsweis in Heilmittelpraxen. Da geht es tatsächlich auch quantitativ um die Patienten:innenversorgung und um „Hands on“. Eine akademische Ausbildung ist hierfür nicht zwingend erforderlich. Dies können auch Therapeut:innen abdecken, die in einer reformierten berufsfachschulischen Ausbildung qualifiziert worden sind.

Als Argument wird immer wieder herangeführt, dass eine Akademisierung den Beruf attraktiver mache. Dies ist aber nirgends valide belegt. Junge Menschen schauen nicht danach, welchen vermeintlichen Mehrwert ein Studiengang als Selbstzweck bietet, sondern unter welchen Bedingungen man später bis zu 40 Jahren arbeiten wird. Wie schaut es mit den Arbeitszeiten, mit Arbeitsbelastung und mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf aus? Wie sieht das mit der Vergütung und der Wertschätzung aus? Wie mit beruflicher Autonomie? Genau da müssen wir ansetzen, um Berufe attraktiv zu machen.

Ich fürchte vielmehr, dass eine Vollakademisierung den Fachkräftemangel weiter verstärken wird. Denn dann würden all diejenigen jungen Menschen wegbrechen, die keine Hochschulzugangsberechtigung haben. Und das sind an den Berufsfachschulen in freier Trägerschaft immerhin rund 60 Prozent der Schüler:innen. Darunter übrigens auch viele blinde und sehbehinderte Menschen. Während für sie die Integration in den ersten Arbeitsmarkt normalerweise ein großes Problem ist, liegt die Vermittlungsquote im Bereich der Physiotherapie bei 100 Prozent. All das wäre Geschichte, wenn es tatsächlich zur Vollakademisierung käme! Wir haben unter anderem im Ausland gesehen, dass hier die Teilhabe oft an den hochschulischen Rahmenbedingungen in der Physiotherapie scheitert.

Eine Brechstange im Hinblick auf die Akademisierung hilft nicht weiter. Nicht dem Berufsstand und schon gar nicht den Patient:innen. Ich bin der festen Überzeugung: In der Dreigliedrigkeit von Massage- und Physiotherapieausbildung sowie 10-20 Prozent Akademisierung liegt die Lösung. Nur so lässt sich ein weiterer Fachkräftemangel verhindern, die Patient:innenversorgung langfristig sicherstellen und nur so ist eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit und ohne Handicap möglich. Andere Ansätze sind leider nicht stichhaltig und ideologisch verblendet.


Der Diplom-Medizinpädagoge und Physiotherapeut Wolfgang Oster ist stellvertretender Bundesvorsitzender des VDB-Physiotherapieverbandes sowie Geschäftsführer des BFW Mainz, einer inklusiven beruflichen Rehabilitationseinrichtung, die auch mehrere Berufsfachschulen für Gesundheitsfachberufe unterhält.
 

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