Barrierefreie Kommunikation: Mitreden, mitbestimmen, mitmachen
Für den Erfolg einer Behandlung ist die Mitarbeit von Patient:innen entscheidend. Doch trotz ausführlichen Erklärungen und anschaulichen Übungen nehmen sie Therapieempfehlungen oft nicht an. Diese Erfahrung machen viele Heilmittelerbringer:innen in der täglichen Praxis. Warum aber sind viele Patient:innen nur schwer zu motivieren? Ein wesentlicher Faktor für die geringe Adhärenz ist eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz. Damit ist die Fähigkeit gemeint, gesundheitsrelevante Informationen richtig zu verstehen, kritisch zu beurteilen und für die Erhaltung der eigenen Gesundheit zu nutzen. Wie eine Untersuchung der Universität Bielefeld von 2016 zeigte, besitzen 54,3 Prozent der deutschen Bevölkerung nur eine geringe Gesundheitskompetenz. Ein Grund dafür sind Kommunikationsbarrieren, die aus vielen Gründen existieren. Dazu zählen vor allem die für Laien kaum verständliche Fachsprache, eine von Ungleichheit geprägte Beziehung zwischen Fachkraft und Patient:in, soziale und kulturelle Hürden sowie Vorurteile und Zeitmangel.
54% der Deutschen haben Probleme damit, Erklärungen von medizinischen und therapeutischen Fachkräften zu verstehen.
Zu einer Milliarde Kontakten zwischen medizinischem Fachpersonal und Patient:innen kommt es laut Bundesärztekammer jährlich im ambulanten Sektor. Das persönliche Gespräch ist auch in der Physiotherapie, Logopädie und Ergotherapie die dominierende Kommunikationsform. Häufig ist Fachkräften allerdings nicht bewusst, dass die Art und Weise, wie sie mit Patient:innen kommunizieren, an deren Bedarfen vorbeigeht. Vor allem chronisch kranke Menschen, Menschen mit Seh- oder Hörbehinderung, Menschen mit geistiger Behinderung, Menschen mit geringer Literalität sowie Menschen mit geringen deutschen Sprachkenntnissen brauchen in der Regel Angebote, die individuell auf ihre Kommunikationsbedürfnisse zugeschnitten sind. Die Barrierefreie Kommunikation (BfK) stellt diese bereit: Unter dem Fachbegriff versammeln sich alle Methoden und Hilfsmittel, die helfen, Hürden abzubauen und für eine Kommunikation „auf Augenhöhe“ zu sorgen. Dazu gehören die sogenannte wertschätzende Dialoghaltung, eine vorurteilsbewusste Sprache, leicht verständliche Sprachvarianten wie „Leichte Sprache“ und „Einfache Sprache“, Gebärdensprache, Hilfsmittel bei Seh- und Hörbehinderungen, unterstützte Kommunikation, digitale und bauliche Barrierefreiheit.
Barrierefreie Kommunikation als Marketingfaktor
Im Idealfall sollte eine Praxis ihren Patient:innen BfK nach Bedarf anbieten können. Das kann auch ein Marketingfaktor sein, da die wachsenden finanzstarken Zielgruppen „ältere Menschen“ und „Best Ager“ ebenfalls davon profitieren. Bestimmte bauliche Maßnahmen und technische Hilfsmittel sind zwar mit hohen Anschaffungskosten verbunden. Viele Kommunikationsbarrieren lassen sich aber ohne aufwendige Investitionen absenken.
67% aller Diskriminierungen sind soziale Herabwürdigungen durch Sprache
Der erste Schritt beginnt damit, die „Barrieren im Kopf“ abzubauen. Vorurteile und Diskriminierung gehören zum deutschen Alltag – auch im Gesundheitswesen: Laut Jahresbericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes wurden 2020 Bürger:innen vor allem aufgrund einer Behinderung (41 %), ethnischer Herkunft (33 %) und Frauen wegen ihres Geschlechts (17 %) diskriminiert. Die meisten Diskriminierungen (67 %) finden durch soziale Herabwürdigungen statt, also durch abwertende Formulierungen, Gesten und Bilder. Eine Diskriminierung liegt beispielsweise auch dann vor, wenn Fachkräfte Patient:innen ignorieren und über deren Kopf hinweg mit den Begleitpersonen über die Behandlung sprechen. In der BfK wird dagegen mit der „wertschätzenden Dialoghaltung“ eine Gesprächsatmosphäre hergestellt, bei der sich alle Beteiligten vorurteilsfrei miteinander verständigen können. Dabei geht es nicht nur darum, Patient:innen empathisch und zugewandt zu begegnen, sondern Bedingungen zu schaffen, die es ihnen ermöglichen, mit Therapeut:innen gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Viele Hilfsmittel können online genutzt werden
Die Bedingungen können ganz unterschiedlich sein und reichen von der Gestaltung der Sitzordnung und Beleuchtung über die Nutzung von visuellen und auditiven Hilfsmitteln bis hin zur Zusammenarbeit mit unterstützenden Professionen. Menschen mit eingeschränkter Sehfähigkeit benötigen beispielsweise gut ausgeleuchtete Räumlichkeiten, Blickkontakt zu sprechenden Personen oder ein Bildschirmlesegerät, um Röntgenbilder oder Anleitungen besser lesen zu können. Für Menschen mit Hörbehinderung ist es dagegen oft sinnvoll, Dolmetscher:innen für Gebärdensprache einzubeziehen. Diese können auch online an Gesprächen oder Behandlungen teilnehmen, ebenso wie Kulturmittler:innen, die über kulturelle Barrieren hinweg helfen. Durch die fortschreitende Digitalisierung können viele Methoden und Hilfsmittel online genutzt werden, beispielsweise Texte in „Leichter Sprache“ oder „Einfacher Sprache“, die komplexe Sachverhalte und Informationen in Fachsprache in leicht verständlichen Worten erklären. In vielen Fällen haben Patient:innen auch einen gesetzlichen Anspruch auf die Kostenübernahme für die jeweils benötigten Hilfsmittel.
Barrierefreie Kommunikation braucht Zeit, eine kostbare Ressource auch in den Praxen der Heilmittelerbringer:innen. Und eine Barriere, die nicht nur für Missverständnisse sorgt, sondern einer der häufigsten Gründe dafür ist, warum Patient:innen wenig Vertrauen in eine sachgerechte und partizipative Behandlung haben. Mit etwas mehr Zeit für BfK kann dagegen die Gesundheitskompetenz und damit die aktive Teilhabe von Patient:innen gestärkt werden.