Prävention: Fehlende Qualifikation?

Vorsorge ist besser als Nachsorge. Umso merkwürdiger, dass es Therapeut:innen vielfach so schwer gemacht wird, Präventionskurse anzubieten.

Frau macht Pilates in Präventionskurs

Erst wenn plötzlich etwas fehlt, zeigt sich oft, wie wichtig es eigentlich ist. So auch bei den zahlreichen Präventionskursen, die in den vergangenen zwei Jahren ausgefallen sind. In allen vier Handlungsfeldern – Bewegung, Ernährung, Entspannung sowie Entwöhnung – fanden kaum noch Angebote statt. Und wenn sie stattfanden, dann allenfalls online. Gut war das für die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung beileibe nicht. Denn schließlich hat Prävention die Aufgabe, mit (noch) gesunden Menschen zu arbeiten, bevor sie krank werden und dann auch hohe Kosten für die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) verursachen. Und so betont Gernot Kiefer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbandes, mit Blick auf die Präventionsangebote nicht ohne Grund: „Es bedarf gemeinsamer Anstrengungen aller verantwortlichen Partner, um wieder dahin zukommen, wo wir vor der Pandemie standen.“

Zu diesen Partnern zählen die Praxen der Heilmittelerbringer:innen, in denen viele solcher Kurse – von der beliebten Rückenschule über das Beckenbodentraining bis hin zu Yoga oder Autogenem Training – gerne angeboten werden. Wenngleich: mit „gerne“ ist das schon länger so eine Sache. Denn bereits als im Jahr 2014 eine Prüfstelle eingeführt wurde, die Angebot wie Anbieter:innen zentral kontrollieren sollte, wuchs der Unmut. Die Krankenkassen versprachen sich von der Prüfstelle zwar viel. So sollten die Kosten von Bauchtanzkursen oder anderen ganz normalen Sportangeboten künftig nicht mehr übernommen und die Qualität insgesamt gesteigert werden. Doch schon damals war eben auch von einem „Bürokratiemonster ohne Qualitätsgewinn“ die Rede – so ein Leserbrief eines empörten Arztes im Ärzteblatt. Auf Facebook bildete sich die Gruppe „Gegen Willkür bei der Zentralen Prüfstelle Prävention“. Und auf Physio.de diskutierten aufgebrachte Therapeut:innen im Forum „Wut im Bauch“ über die Zertifizierungsbürokratie: „Bisher haben mir meine Kurse immer Spaß gemacht und ich betrachte sie als Abwechslung – aber so verliere ich echt langsam die Lust“, schrieb zum Beispiel eine Praxisinhaberin. „Mir kommt das wirklich wie Schikane vor“.
 

25 % der Teilnehmenden an Präventionskursen ist 50 bis 59 Jahre alt und bildet damit die größte Altersgruppe.

Präventionsbericht 2021 

Es gibt also viel zu tun, sollte man meinen, um das System zu optimieren – gerade jetzt nach der Pandemie, wenn das Angebot an Präventionskursen wieder hochgefahren werden soll. Gelegenheit dazu hatten die Krankenkassen im vergangenen Jahr. Denn am 27. September erschien der neue „Leitfaden Prävention“, also jenes Papier, das die Handlungsfelder und Richtlinien definiert und die Grundlage für die Förderung bzw. Bezuschussung von Maßnahmen festlegt. Doch die große gemeinsame Kraftanstrengung, von der GKV-Vize Kiefer sprach, wird wohl ausbleiben. Denn zumindest die Ergotherapeut:innen werden künftig deutlich weniger Präventionskurse anbieten können als bisher.

Aber der Reihe nach: Früher war der Leitfaden so aufgebaut, dass dort Berufsgruppen aufgeführt waren, deren Angehörige dann – sofern sie die entsprechenden Zusatzqualifikationen für bestimmte Angebote hatten – ihre Kurse anbieten konnten. Ergo- wie Physiotherapeut:innen machten dies qua Berufszugehörigkeit natürlich vor allem im Handlungsfeld Bewegung, teilweise auch im Handlungsfeld Entspannung bzw. Stress- und Ressourcenmanagement. Doch diese Berufsgruppennennung gibt es nun nicht mehr, stattdessen werden Ausbildungsinhalte mit Stundenanzahl genannt, die vorzuweisen sind, wenn man einen Kurs anbieten möchte. „Grundsätzlich ist das auch eine gute Idee, denn eine Qualifikation ist ja nicht abhängig von einem erworbenen Titel, sondern von dem, was man tatsächlich erlernt hat und kann“, erläutert Bettina Simon, Vorstandsmitglied beim Deutschen Verband Ergotherapie (DVE). Und Claudia Widmaier, Pressereferentin beim GKV-Spitzenverband ergänzt: „Die Reform war notwendig geworden, weil im Rahmen des Bologna-Prozesses immer mehr Studiengänge mit unterschiedlichen Fächerkombinationen entwickelt worden waren, bei denen nicht bereits aus dem Abschluss-Titel klar war, was sie beinhalten.“
 

81 % der Teilnehmenden der Kurse sind laut Präventionsbericht weiblich.

Präventionsbericht 2021

Widersprüchliche Anforderungen

Das Problem entsteht aus Sicht der Ergotherapie allerdings dann, wenn die geforderte Qualifikation so hoch angesetzt wird, dass es Therapeut:innen nahezu unmöglich gemacht wird, die geforderten Leistungsnachweise zu erbringen. Und genau das ist laut DVE-Vorstand Simon passiert. Denn nun müssen Anbieter:innen im Handlungsfeld Bewegung unter anderem 150 Stunden „Trainings- und Bewegungswissenschaften“ sowie weitere 150 Stunden „Theorie und Praxis der Sportarten und Bewegungsfelder“ nachweisen – und das sieht die Ausbildungsverordnung der Ergotherapeut:innen nun einmal nicht vor. „Unter dem Strich heißt das, dass wir zwar qualifiziert sind, mit schwerstkranken Patient:innen zu trainieren, nicht aber, um mit gesunden Menschen ein paar Übungen zu machen“, wundert sich Simon. Oder vielmehr: Sie ärgert sich darüber kolossal!

Fassungslos macht sie auch, wie es dazu gekommen ist. Verantwortlich für diese Neuregelung ist nach Ansicht von Simon ein Sportwissenschaftler aus Frankfurt, der damals die entsprechende Arbeitsgruppe geleitet hatte und anscheinend die Maßstäbe seines eigenen Studiums als Richtschnur für die neue Leitlinie genommen habe. „Ich möchte jedoch den Sportwissenschaftler sehen, der selbst Präventionskurse anbietet,“ sagt Simon. Denn reich würde man mit solchen Kursen schließlich nicht gerade werden. Auch die nachträgliche Qualifizierung würde sich daher bei den Preisen für Fortbildungen nicht lohnen. „Das ist bei den Physiotherapeut:innen leichter. Ihnen fehlen nach der neuen Leitlinie nur rund 30 Stunden Pädagogik“, erklärt Simon, das ließe sich schnell mal an zwei Wochenenden nachholen.

Doch auch Physiotherapeut:innen klagen. Denn mit der neuen Leitlinie hat die Zentrale Prüfstelle ihre Webplattform neu eingerichtet – nicht immer im Sinne der User:innen, die jetzt ein Mehr an Bürokratie beklagen. Neu ist insbesondere die Verpflichtung, nicht nur das Abschlusszeugnis, sondern auch Einzelnachweise zu den jeweils erforderlichen Stunden vorzulegen. „Wenn ich vor 30 Jahren meine Ausbildung gemacht habe, gibt es doch oft die Schule gar nicht mehr, sodass viele Therapeut:innen dies schlichtweg gar nicht machen können“, ärgert sich Simon. Vor allem sei es aber auch absolut unnötig: „Ein Blick in die Ausbildungsordnungen genügt, da steht genau drin, wie viele Stunden in welchen Modulen erbracht wurden.“ Auch GKV-Pressereferentin Widmaier sieht zwar den Mehraufwand bei den Antragsteller:innen, glaubt aber, dieser würde durch die Vorteile der Neuregelung „mehr als aufgewogen“ werden. Schließlich könne nun jede:r solche Kurse anbieten, sofern die Qualifikation nachgewiesen werden kann, und nicht mehr nur Angehörige bestimmter Berufsgruppen.

34 % weniger als im Vorjahr wurden 2020 für die betriebliche Gesundheitsförderung ausgegeben.

Präventionsbericht 2021

Vor allem ein Problem der Kursanbieter:innen 

Während der DVE durch die Neuregelung gleich die flächendeckende Versorgung in Sachen Prävention gefährdet sieht, ist die Situation für die Menschen mit Bedarf an Präventionskursen tatsächlich wohl weniger schlimm als für die betroffenen Kursanbieter:innen. Denn der größte Anbieter für Präventionsangebote im Bereich Bewegung ist – und bleibt – der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) bzw. dessen angeschlossene Sportvereine. Auch sie hätten zwar unter der zunehmenden „Überregulierung“ und dem „Zwangskorsett“ der Kassen zu leiden, so Dr. Mischa Kläber, Ressortleiter Breiten- und Gesundheitssport. Ein Gutachten und etwas Nachbesserung in der Ausbildung hätten dann aber doch zu einer „Sonderregelung“ geführt, bei der alle Angebote mit dem DOSB-Siegel SPORT PRO GESUNDHEIT automatisch förderfähig sind. Die Zertifizierung bekäme aber eben nicht der oder die einzelne Übungsleiter:in, sondern der Sportbund als institutioneller Anbieter. Nachzulesen ist das übrigens ebenfalls im seitenlangen Leitfaden Prävention. In einer winzigen Fußnote. 

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