Ausbildungsthema Existenzgründung?
Offizielle Zahlen darüber, wie viele Auszubildende sich direkt im Anschluss an ihre Lehrjahre für die Selbstständigkeit entscheiden, gibt es nicht. Branchenkenner:innen gehen aber von einem eher geringen Anteil aus. „Die Allermeisten machen sich nicht unmittelbar nach der Berufsausbildung selbstständig, weil der nötige Erfahrungsschatz fehlt“, so Uwe Eisner, Vorstandsmitglied beim Deutschen Verband für Physiotherapie (ZVK) e. V. „Dabei geht es nicht nur um betriebswirtschaftliche Aspekte, es geht um Marktkenntnis und ein grundlegendes Verständnis der Regeln.“ Im Vordergrund stehe für den Großteil der Berufsanfänger:innen das Sammeln von Erfahrungen. Dafür eignet sich am besten der Start als Angestellte in einer Praxis, mit Kolleg:innen zum fachlichen Austausch und Rückhalt für die persönliche Weiterentwicklung und Fortbildung.
Raum für die Vermittlung gesetzlicher Vorgaben
Gemessen am geringen Anteil potenzieller Existenzgründer:innen direkt im Anschluss an die Ausbildung hat das Thema in den Ausbildungs- und Prüfungsordnungen nur einen untergeordneten Stellenwert. Zentraler Teil der Ausbildung ist neben den fachlichen Inhalten die Vermittlung der Regeln des Gesundheitsmarktes sowie der gesetzlichen Vorgaben. So wird insbesondere den Sozialgesetzbüchern Raum im Curriculum eingeräumt. Außerdem werden die Heilmittelrichtlinie, der bundeseinheitliche Rahmenvertrag, arbeitsrechtliche Grundlagen sowie Hygiene- und Datenschutzregeln behandelt. „Das sind alles Inhalte, deren tiefgreifendes Verständnis zwar für eine Selbstständigkeit wichtig sind, deren Kenntnis aber ebenso im Angestelltenverhältnis von Bedeutung ist“, so Bettina Simon, Vorstandsmitglied beim Deutschen Verband Ergotherapie e.V. (DVE).
Welche Gründerthemen sind nicht Teil des Curriculums?
Entscheiden sich Therapeut:innen für eine Selbstständigkeit, benötigen sie darüber hinaus betriebswirtschaftliche Kenntnisse, etwa:
- Was sind wirtschaftliche Kennzahlen und wie erstelle ich eine Kostenrechnung?
- Wie gehen wirtschaftliche Praxisführung und Personalführung?
- Wie erstelle ich einen Businessplan?
- Was ist steuerrechtlich bei der Existenzgründung zu beachten?
Viele Berufsfachschulen vermitteln spezifische Inhalte für angehende Existenzgründer:innen durch optionale Vorträge externer Gastreferent:innen. „Aus meiner Sicht ist es im Rahmen der Ausbildung wichtiger, den jungen Menschen ganz grundsätzlich Wege der Weiterentwicklung aufzuzeigen“, so Jürgen Weinberg, Geschäftsführer der Ludwig Fresenius Schulen. Das betreffe nicht nur die Gründung einer eigenen Praxis, denn die allermeisten Therapeut:innen schlagen eine Laufbahn als Angestellte ein. Da gehe es vor allem auch um inhaltliche Fortbildung oder eine mögliche pädagogische Laufbahn als Dozent:in.
Lehrjahre mit Patient:innen
Auch Bettina Simon sieht das Thema Existenzgründnung nicht als zentralen Aspekt einer therapeutischen Ausbildung: „Die drei Jahre Berufsausbildung sind gut gefüllt mit Inhalten, die fachlich auf eine Tätigkeit als Therapeut:in vorbereiten“, so Bettina Simon. Sie rät gar von einer Selbstständigkeit im unmittelbaren Anschluss an die Berufsausbildung ab. Denn es gehe im Anschluss an die Ausbildung darum, mit Kolleg:innen als Mentor:innen Erfahrungen zu sammeln in der Behandlung der unterschiedlichsten Krankheitsbilder. Zudem ergebe sich für viele erst im Laufe ihrer praktischen Tätigkeit ein Gespür dafür, welche fachliche Spezialisierung angestrebt und ob eine selbstständige Tätigkeit als persönlich passend wahrgenommen werde. Jürgen Weinberg sieht das ähnlich: „Ich würde jedem und jeder dazu raten, erst einmal das Leben an der Behandlungsbank kennenzulernen.“
BWL-Wissen am freien Weiterbildungsmarkt
Uwe Eisner hält den Zeitpunkt für ein tiefgreifendes betriebswirtschaftliches Verständnis direkt im Anschluss an die Ausbildung für zu früh: „Diese Kenntnisse wären in einer Therapeut:innenausbildung an der falschen Stelle, weil sie ohne praktische Erfahrungen zu abstrakt bleiben“, so der Experte. Er sieht den Raum für die Vermittlung vertiefter betriebswirtschaftlicher Themen in separaten Existenzgründerseminaren. Sie werden etwa von den Industrie- und Handelskammern angeboten, von den Verbänden oder auch an Volkshochschulen. „Wie aber der erste Gesundheitsmarkt funktioniert und wo der Unterschied zum zweiten und dritten liegt, dieses Wissen bekommt man nicht auf dem freien Markt vermittelt“, so Uwe Eisner. Das gehöre weiterhin in die Ausbildung.
Jede Hand zählt im Fachkräftemangel
Die Ausbildungs- und Prüfungsordnungen in den Heilmittelberufen sind zum großen Teil veraltet. Der Gesundheitsmarkt befindet sich derzeit in einem Prozess der Umstrukturierung. Die Heilmittelverbände setzen sich ein für eine zeitgemäße Überarbeitung der Ausbildungs- und Prüfungsordnung. Zentrale Forderung ist dabei die international bereits etablierte hochschulische Ausbildung auch in Deutschland. „Wir nehmen bei vielen Auszubildenden ein Defizit wahr im Verständnis betriebswirtschaftlicher Prozesse. Dabei wäre es für ein grundlegendes Verständnis des Gesundheitsmarktes sinnvoll zu wissen, wie sich etwa ein Gehalt berechnet oder was allgemeine Betriebskosten sind“, so Uwe Eisner.
Allerdings könne die Vermittlung dieser Kenntnisse im Rahmen der aktuellen Ausbildung nicht signifikant gesteigert werden, weil das schlicht nicht Ziel der therapeutischen Ausbildung sei. Bei der dem Vorschlag zur neunen akademischen Ausbildungs- und Prüfungsordnung gehe es vor allem um die Wissenschaftlichkeit, bei der Deutschland im internationalen Vergleich hinterherhänge. Aber auch betriebswirtschaftliche Aspekte haben in den Vorschlag Einzug gehalten. Jürgen Weinberg verortet das Thema gesamtgesellschaftlich so: „Wir müssen im Blick behalten, wo wir hinwollen. Bei einer Vollakademisierung müssen wir uns bewusst darüber sein, dass wir in Zeiten des Fachkräftemangels einen zentralen Teil unserer Zielgruppe außen vorlassen, nämlich den mit einem Abschluss nach der Sekundarstufe 1. Wir brauchen allerdings jede Hand an den Behandlungsbänken“.